Ökosysteme haben in den vergangenen Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Gemäss einer Umfrage des Fraunhofer Instituts beschäftigen sich rund 70% der befragten Unternehmen bereits mit digitalen Ökosystemen. Ob bewusst oder unbewusst sind wir alle bereits mit verschiedensten Ökosystemen in Kontakt geraten oder als User sogar Teil davon. Im Gesundheitswesen befassen sich bereits verschiedene Spitäler und Kliniken mit Gesamtlösungen der Digitalisierung ihrer Prozesse und schlussendlich der Bildung eines Healthcare Ökosystems. Dabei sind verschiedene Ausprägungen und Arten von Ökosystemen denkbar. So sind Ökosysteme, die den Kunden ins Zentrum stellen genauso vorstellbar und legitim, wie Ökosysteme, die sich um das Behandeln einer spezifischen Krankheit bilden. Dementsprechend sind wir überzeugt, dass im Healthcare Sektor in Zukunft grosses Potenzial für Ökosysteme besteht. Da es sich um ein umfassendes und komplexes Themenfeld handelt, möchten wir in einer Serie von Artikeln sowohl die Grundlagen als auch die Besonderheiten von Ökosystemen erläutern und damit ein Verständnis schaffen und eine mögliche neue Strategie für das digitale Zeitalter aufzeigen. Der Fokus dieses ersten Teils der Artikelserie liegt dabei auf der Abgrenzung von Ökosystemen zu anderen Kooperationsformen und der Definition wichtiger Begrifflichkeiten.
Ökosysteme können als eine Gruppe voneinander unabhängiger Unternehmen definiert werden, deren Zusammenspiel von komplementären Leistungen ein gemeinsames Nutzenversprechen erfüllt. Diese Definition kann nun in einzelne Bausteine und Voraussetzungen für ein Ökosystem unterteilt werden:
- Business Ökosysteme basieren auf einem gemeinsamen Nutzenversprechen («joint value proposition»). Dieses adressiert ein spezifisches Kundenbedürfnis, das durch das Zusammenspiel der Aktivitäten der einzelnen Unternehmen befriedigt werden soll.
- Die am Ökosystem partizipierenden Unternehmen agieren unabhängig voneinander, treten aus freiem Willen dem Ökosystem bei und kommen nicht selten aus verschiedenen Branchen.
- Die einzelnen Leistungen der Unternehmen besitzen strikt oder supermodular komplementäre Eigenschaften und übersteigen damit in ihrer Gesamtheit ihren addierten Einzelwert. Strikte Komplemente weisen gegenseitige Abhängigkeiten in dem Sinne auf, dass Element A ohne Element B nicht funktioniert oder der Wert von A durch den Einsatz von B maximiert wird. Ein simples Beispiel dafür ist der Schlüssel zu einem Schloss. Supermodularität liegt dann vor, wenn mehr von Element A ein Element B wertvoller macht.
Der Aufbau eines Ökosystems ist nur eine von mehreren strategischen Möglichkeiten, die Unternehmen offenstehen, um ein gegebenes Nutzenversprechen einzulösen. Ökosysteme bilden eine Zwischenform zwischen vertikal integrierten Unternehmen oder statischen Supply-Chains auf der einen und offenen, wettbewerbsorientierten Märkten auf der anderen Seite (siehe Abbildung 1). Bei der vertikalen Integration wird die Wertschöpfungskette internalisiert, so dass im idealtypischen Fall ein Unternehmen alle nötigen Ressourcen und Fähigkeiten besitzt und das Nutzenversprechen komplett selbst erfüllt. Die statische Supply-Chain geht über die Unternehmensgrenzen hinaus und lagert bestimmte wertschöpfende Aktivitäten an Akteure vorgelagerter (Lieferanten) Wertschöpfungsstufen aus. Im Modell des offenen Markts kann der Kunde zwischen unabhängigen, unkoordinierten und miteinander im Wettbewerb stehenden Anbietern auswählen und verschiedene Produkte entsprechend seiner wechselnden Bedürfnisse kombinieren.
Abbildung 1 – Organisationsstrukturen eines Wertschöpfungssystems (Eigene Darstellung in Anlehnung an Fuller, Jacobides & Reeves, 2019, S. 3)
Weitere Organisationsstrukturen, die oftmals fälschlicherweise als Ökosystem bezeichnet werden, sind Netzwerke und strategische Allianzen. Diese stellen im Grunde eine Spielart des oben erwähnten Supply-Chain-Modells dar. Üblicherweise werden Beziehungen in strategischen Allianzen durch Verträge in Verbindung mit formellen Kooperationsmechanismen strukturiert und formalisiert. Ökosysteme hingegen setzen Standards und definieren die Spielregeln für kooperierende Akteure. So beruht die Zusammenarbeit zwischen App-Entwicklern und Apple auf keiner formellen Basis, sondern lediglich auf den von Apple definierten Standards.
Wir hoffen, Ihnen mit diesem Artikel einen ersten Einblick in die Welt der Business Ecosystems gegeben und die Unterschiede der verschiedenen Organisationsstrukturen aufgezeigt zu haben. Im nächsten Teil der Serie beschäftigen wir uns mit verschiedenen Arten von Ökosystemen und den Rollen innerhalb eines Ökosystems.
Mauro Osta
Weiterführende Literatur
- Fuller, J., Jacobides, M. G. & Reeves, M. (2019). The Myths and Realities of Business Ecosystems. MIT Sloan Management Review.
- Jacobides, M. G., Cennamo, C. & Gawer, A. (2018). Towards a theory of ecosystems. Strategic Management Journal, 39(8), 2255–2276.
- Jung, C. & Polst, S. (2020). Fraunhofer-Umfrage Digitale Ökosysteme in Deutschland 2020. Fraunhofer IESE.
- Killich, S. (2011). Formen der Unternehmenskooperation. In: T. Becker, I. Dammer, J. Howaldt & A. Loose (Hrsg.), Netzwerkmanagement (S. 13–22). Springer, Berlin, Heidelberg.
- Müller-Stewens, G. & Stonig, J. (2019). Unternehmens-Ökosysteme und Plattformen: Auf dem Weg zu einem geteilten Verständnis. Die Unternehmung, 73(4), 374–380.
- Pidun, U., Reeves, M. & Schüssler, M. (2019). Do You Need a Business Ecosystem? BCG Global.
- Shipilov, A., & Gawer, A. (2020). Integrating research on interorganizational networks and ecosystems. Academy of Management Annals, 14(1), 92-121.
- Singhal, S., Kayyali, B., Levin, R. & Greenberg, Z. (2020). The next wave of healthcare innovation: The evolution of ecosystems. McKinsey & Company.