Die COVID-19 Pandemie, die uns seit Anfang März 2020 teils mehr teils weniger in Atem hält, hat eine im Vergleich zu anderen Krisen besondere Qualität. Die folgende Tabelle zeigt auf, wie sie sich von «normalen» Krisen unterscheidet:
Tabelle 1 – Besonderheiten der COVID-19 Pandemie
Räumlich hat die COVID-19 Pandemie eine globale Ausdehnung, während «normale» Krisen oft regional begrenzt sind. Diese finden zeitlich als Ereignisse statt, wohingegen die COVID-19 Pandemie zeitlich so ausgedehnt ist, dass ihre Bearbeitung während der Krise erfolgt und nicht im Anschluss. Zudem schwankt die Verbreitungsgeschwindigkeit in Form von Wellen zu- und abnehmender Intensität. Mit Blick auf die Akteure zeichnet sich die Pandemie dadurch aus, dass alle Akteure dem Risiko der Pandemie ausgesetzt sind, sich aber die Kompetenz im Umgang mit der Pandemie erst einmal erarbeiten müssen. Schliesslich nimmt bei einer normalen Krise die sachliche Ungewissheit ab, weil das Ereignis vorüber ist, was bei der COVID-19 Pandemie weniger der Fall ist.
Widersprüchliche Anforderungen an Entscheidungen und Entscheidungspraxis
Diese Besonderheiten stellen widersprüchliche Anforderungen an Entscheidungsträger, welche die Steuerung in der Pandemie verantworten: Entscheide sollen kohärent und wissensbasiert sein, möglichst für den ganzen Wirkungsbereich gelten und den Beteiligten Orientierung bieten, damit möglichst viele «an einem Strang ziehen». Gleichzeitig sollen diese Entscheide zu den jeweiligen lokalen Gegebenheiten passen, zeitlich flexibel und anpassungsfähig sein, um mit einer fortlaufend veränderlichen Handlungssituation umzugehen. Diese Widersprüchlichkeit führt nicht nur dazu, dass man es kaum allen recht machen kann. Sie bezeichnet auch die fundamentale Ungewissheit, unter der die Steuerung mit ihren Entscheidungen steht, die sogar im Nachhinein nur schwer bewertet werden können. Gleichzeitig gilt das, was ein Arzt im Interview sagte: «Man kann einfach nicht nicht entscheiden. Auch wenn ich auf eine Anfrage nichts sagen kann, ist das eine Entscheidung.»
Steuerung durch die Pandemie – Grundprinzipien und Fragen zur Selbstreflexion
Die Komplexität der COVID-19 Pandemie und die widersprüchlichen Anforderungen an Entscheidungen zu ihrer Bewältigung implizieren eine begrenzte Beherrschbarkeit und damit auch beschränkte direkte Steuerbarkeit. Deshalb kann es bei Hinweisen für die Steuerung in der Pandemie nicht um genaue Rezepte gehen. Stattdessen bieten Prinzipien Orientierung für die Steuerung komplexer Systeme. Diese Prinzipien verweisen auf wichtige Voraussetzungen wirksamer Steuerung. Während der Steuerung bearbeiten die Akteure auch zentrale Fragen mit, deren balancierende Bearbeitung wiederum die Prinzipien erschliesst. Dafür liegt eine zentrale Aufgabe von Führungskräften in der Organisation, Orchestrierung und Weiterentwicklung der Steuerung. Die folgende Abbildung 1 skizziert den Zusammenhang zwischen diesen Komponenten zur Steuerung in der Pandemie:
Abbildung 1 – Steuerungsansatz in der Pandemie
Prinzipien der Steuerung
Vier systemische Prinzipien dienen der Orientierung für die Steuerung in der Pandemie:
- Das Varietätsprinzip besagt, dass sich die Varietät an Handlungsmöglichkeiten des steuernden und des gesteuerten Systems entsprechen sollten. Daraus ergeben sich zwei kombinierbare Stossrichtungen: Die Varietätsreduktion der Pandemie – das gesteuerte System – z.B. über die erfolgten Massnahmen zu Beschränkung von Übertragungswegen; und die Steigerung der Möglichkeiten in der Steuerung, z.B. der Aufbau von Behandlungskapazitäten durch Reduktion des Normalbetriebs im Gesundheitswesen.
- Das Koordinationsprinzip folgt daraus, dass die vielfältigen Aktivitäten und Entscheidungen ganz unterschiedlicher Akteure eine gewisse Abstimmung benötigen, um Mehrspurigkeiten und Widersprüchlichkeiten zu handhaben. Zudem beinhaltet das Koordinationsprinzip, dass gerade die Handhabung komplexer Fragestellungen unterschiedliche Perspektiven und Expertisen braucht, die der Entwicklung und Akzeptanz von Entscheidungen dienen.
- Das Redundanzprinzip verweist auf die Verfügbarkeit von zusätzlichen Ressourcen, Informationen und Steuerungsmöglichkeiten, die der Besonderheit der Krise gerecht werden oder dann eingesetzt werden, wenn es zu Ausfällen aufgrund der Krise kommt.
- Das Aufmerksamkeitsprinzip meint, dass im Umgang mit der Pandemie eine hohe Achtsamkeit auf die sich abzeichnenden Entwicklungen, die möglichen Folgen von Aktivitäten im Umgang mit der Pandemie und vorausschauend auch darauf gelegt wird, wie der Rückbau der eingesetzten Massnahmen erfolgt.
Arbeit an den Voraussetzungen
Entlang dieser Prinzipien und im jeweiligen Kontext der Möglichkeiten und Restriktionen eines Landes, seiner Regionen und Organisationen nutzen und entwickeln die beteiligten Akteure wesentliche Voraussetzungen zur Bewältigung der Pandemie. Diese Voraussetzungen reichen von der aktuellen Beobachtungen der pandemischen Entwicklung inklusive der Wirkungen getroffener Massnahmen, über Klärungen von Strukturen und Beziehungen zwischen Akteuren zur Pandemiebewältigung sowie der verfolgten Stossrichtung, dem Ausgleich von Belastungssitzen, bis hin zur Mobilisierung von Ressourcen, Beschleunigung von Prozessen und zu Fragen von Delegation und Zentralisierung von Entscheidungen, Möglichkeiten für strukturierte Experimente und den Einbezug unterschiedlicher Perspektiven in die Steuerung der Pandemie.
Steuerung in der Pandemie: Strukturierung der Entscheidungspraxis zur Balancierung widersprüchlicher Anforderungen an die Entscheidungen zur Pandemiesteuerung
Damit wird die Steuerung in der Pandemie zur Balancierung der widersprüchlichen Anforderungen an einzelne Entscheidungen und an die Art und Weise, wer, über was wann und wie entscheidet – die so genannte Entscheidungspraxis. In dieser Sorge für Entscheidungen und die Etablierung einer passenden Entscheidungspraxis liegt die Kernaufgabe für Führungskräfte. Das ist insbesondere bei COVID-19 der Fall. Es bedeutet, unter anderem die folgenden Fragen für sich und mit Bezug auf das eigene Wirkungsfeld – sei es national für den Bund, regional für den Kanton oder organisational für eine Spital- oder Unternehmensleitung – zu klären:
Tabelle 2 – widersprüchliche Anforderungen an die Entscheidungspraxis zur Pandemiesteuerung
Die Klärung – die angesichts einer dynamischen Entwicklung immer wieder auftauchen – derartiger Fragen zur Entscheidungspraxis bilden wiederum eine Grundlage zur Balancierung der widersprüchlichen Anforderungen, bei jeweiligen Entscheidungen zu Einführung, Veränderung oder Streichung einzelner Massnahmen:
Tabelle 3 – widersprüchliche Anforderungen an Entscheidungen zur Pandemiesteuerung
Für Führungskräfte steht damit im Kern der Pandemiebewältigung, die Steuerung zu organisieren und zu orchestrieren. Ersteres kann entlang der Fragen zur Entscheidungspraxis und der Prinzipien erfolgen mit dem Ziel, in ihrem Wirkungsbereich – einem Land, einem Kanton, einer Organisation – die Fähigkeiten zur Bewältigung der Pandemie zu stärken. Letzteres meint, im Vollzug der Pandemiebewältigung immer wieder für die Abstimmungen und Integration der vielfältigen Beiträge unterschiedlicher Akteure zu sorgen. Diese Aufgabe ist hochgradig anspruchsvoll, auch weil Führungskräfte für die Steuerung eines Systems verantwortlich sind, das sich aber nicht vollständig beherrschen lässt. Deshalb und aufgrund der dynamischen Ungewissheit der Pandemie gehört auch die selbst-reflexive Weiterentwicklung der eigenen Steuerungspraxis zur Führungsaufgabe. Die obigen Fragen an Entscheide und Entscheidungspraxis können hier einen Einstieg bieten.
Prof. Dr. Harald Tuckermann
Weiterführende Literatur